Da bin ich wieder – schön, dass ich Euch zum zweiten Mal schreiben kann. Hiermit startet mein Newsletter „Was tun?!“ also richtig, denn ein Newsletter, der nur aus einer einzigen Ausgabe besteht, ist ja wohl noch gar keiner. Ich habe mich wirklich sehr über Eure vielen Reaktionen gefreut; die allermeisten davon sehr ermunternd. Nur eine einzige Bitte darum, vom Verteiler genommen zu werden, hat mich erreicht: keine schlechte Quote!
Stichwort Serendipität [bzw. „särendibbidy“]: Ich bin von Euch überrascht worden! Ein Gespräch zwischen dem Physiker Werner Heisenberg und dem Chemiker Adolf Butenandt über das Verhältnis von Rationalität und Emotion in der Wissenschaft (aus diesem Buch); eine Lese-Empfehlung aus Australien; ein berührender Bericht aus dem Eifel-Überflutungsgebiet … Danke! Dann gab’s diese Rückfrage zu dem von mir mitgeschickten Bild: „Und bitte, was ist Dein Büro? Der Briefkasten? Oder das Geschäft hinter dem Schaufenster? Oder die Idee hinter dem Graffiti?“ So viel sei schonmal vorweggenommen: der Briefkasten ist es nicht. Und um genauer zu erklären, wo ich jetzt arbeite, wie und woran: schauen wir heute noch einmal ausführlicher zurück.

„Was tun?!“ Es ist nämlich erst zweieinhalb Jahre her, dass diese Frage das letzte Mal groß und drängend vor mir stand. Damals musste ich meine Markenagentur Vince & Vert fast komplett herunterfahren – von über 20 Kolleg*innen blieben nur wir beiden Gründer übrig, Michael Noli und ich. Vom Auf und Ab des Agenturgeschäfts hatte ich gerade gründlich genug; also begann die Suche nach einer sinn- und wirkungsvolleren Aufgabe. Von dieser Suche will ich Euch heute erzählen, und vor allem von dem, was ich gefunden habe. Am besten nehme ich Euch dazu mit nach München-Haidhausen: in ein Büro, das eher aussieht wie eine Wohnung. Dorthin bin ich vor ein paar Tagen zurückgekehrt, um mich mit Stefan Shaw zu treffen.
Es ist einer der heuer recht seltenen echten Sommernachmittage; und nur, weil ich unser Gespräch auch aufzeichnen will, schließen wir die Fenster zum Innenhof, in dem die Hyazinthen blühen. Der Kaffee ist hervorragend wie immer hier – ich weiß das, ich hab oft genug selbst die Maschine bedient, denn schließlich habe ich bis vor kurzem hier gearbeitet. Stefan Shaw ist erst ein Kunde von Vince & Vert gewesen, dann wurde er zu einem guten Freund … und dann haben wir sogar ein Unternehmen gegründet. Los geht’s:
I. Legacy
Ich Als allererstes muss ich mich bei Dir bedanken.
Stefan Shaw Wofür?
Ich Ich glaube, den Titel „Was tun“ verdanke ich Dir … Ich habe vor zweieinhalb Jahren ja schon einmal darüber nachgedacht, ob man nicht was publizieren, vielleicht sogar ein Buch schreiben sollte. Und ich hab’ Dich gefragt, wie denn der Titel für so ein Buch heißen könnte. Und ich nehme mal an, er ist Dir eingefallen, weil Du mit Lenin unterm Kopfkissen schläfst.
Stefan Shaw Nee, ich hätte selbst auf gezielte Rückfrage nicht gewusst, dass Lenin etwas damit zu tun hat. Aber ich erinnere mich jetzt tatsächlich, dass wir über einen knackigen Titel nachgedacht haben – eine Überschrift, die idealerweise beschreibt, was viele Menschen in unserem Alter wahrscheinlich jetzt gerade umtreibt. Einmal vor dem Hintergrund eben jenes Alters, aber auch vor dem Hintergrund der Nachrichten, die uns umgeben und der fragenden Blicke unserer Kinder: Was tut Ihr denn da? Wir waren ja beide in einer Umbruchsituation, wo wir über Alternativen nachdenken mussten – dazu, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Und ich erinnere mich, dass Du den Vorschlag gemacht hast, gemeinsam eine Agentur hochzuziehen, die sich konsequent mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt. Und ich habe sinngemäß geantwortet: Bevor ich irgendwelchen Corporate-Social-Responsibility-Menschen, die überhaupt kein Gehör haben in der Chefetage, irgendwelche Sachen präsentiere … da erschieße ich mich lieber.
Ich Stimmt, und ich war sozusagen bereit, mit Dir in den Tod zu gehen.
Stefan Shaw Ich wollte mit Entscheiderinnen und Entscheidern zu tun haben; und die erreiche ich am ehesten im Feld der Philanthropie. Dort findet man Menschen, die wirklich etwas bewegen wollen. Und auch wirklich etwas bewegen können: weil sie die Mittel dazu haben. Lass uns doch diesen Menschen anbieten, sie bei ihrem Projekt zu begleiten.
Ich Und dann hast Du gesagt oder geschrieben, dass diese Idee „Legacy“ heißen könnte. Und Du für einen Laden, der so heißt, gern arbeiten würdest. Tja: Ich hab Dir zugestimmt.
— Aus dieser ersten Idee ist dann tatsächlich die Philanthropie-Beratung legacies.now geworden, die Stefan Shaw zusammen mit Stephan Schwahlen, Michael Noli und mir im September 2019 als GmbH gegründet hat – de jure gewinnorientiert, de facto gemeinnützig, da alle Gewinne gespendet werden. Seither hilft legacies.now ambitionierten Philanthrop*innen (und solchen, die es werden wollen) dabei, so wirkungsvoll wie möglich zu spenden. Denn das war und ist der Unternehmenszweck: so viel Geld wie möglich auf die – ermittelt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen – effektivsten Hilfsorganisationen der Welt zu lenken.
II. Faktor 1000
Ich Warum hat Philanthropie überhaupt Beratung nötig? „Folge deinem Herzen, folge deinem Bauchgefühl, es wird dich schon dorthin leiten, wo dein Geld, deine Spende, am besten aufgehoben ist“ … warum stimmt das nicht?
Stefan Shaw Ich weiß aus eigener Erfahrung im Stiftungssektor, was auch längst empirisch belegt werden kann: Die Wirksamkeit von gemeinnützigen Projekten, die ein ähnliches Ziel verfolgen, kann enorm unterschiedlich ausfallen. Faktor 10 bis 100, manchmal Faktor 1000, selbst Faktor 10.000: Diese Werte sind durchaus realistisch. Man könnte ungläubig bis entsetzt darauf reagieren. Oder diesen Befund als Chance begreifen: Weil wir bei legacies.now durch Recherchen und unser Wissen unseren Klient*innen die Möglichkeit eröffnen, genau das zu erreichen, was sie erreichen möchten. Nur: viel, viel mehr davon.
Ich Helfen mit kühlem Kopf statt nur mit heißer Emotion … Welche Rolle spielt der so genannte Effektive Altruismus dafür?
Stefan Shaw Das ist der Versuch, sich der Beantwortung der Frage „Was tun?!“ systematisch zu nähern. Der „Effektive Altruismus“ liefert einerseits Forschungsergebnisse und konkrete Förderempfehlungen – und andererseits einen methodischen Werkzeugkasten.
III. Vier Fragen
Ich Am hilfreichsten in diesem Werkzeugkasten fand ich immer die vier großen Fragen, mit denen sich ermitteln lässt, in welchem Problembereich sich ein Engagement besonders lohnen könne …
Stefan Shaw Ja, unbedingt – alleine schon, weil diese Fragen transparent machen, dass eine Entscheidung für ein bestimmtes Engagement gleichzeitig immer eine Entscheidung gegen so vieles andere ist, um das man sich dann nicht kümmert. Also, die erste Frage: Wie groß ist das Problem im Vergleich zu anderen Problemen? Zweitens: Wie vernachlässigt ist es? Denn je weniger Geld bereits in die Bekämpfung des Problems gesteckt wird, desto mehr kann ein einzelner Beitrag erreichen. Die dritte Frage: Wie genau lässt sich Erfolg definieren – kann ich überhaupt rauskriegen, ob ich etwas bewirkt habe oder nicht? Ist das messbar, erklärbar, was da passiert? Übrigens: Es ist wirklich erstaunlich, wie oft man bei dieser Frage in leere Gesichter schaut – wenn man sie Menschen stellt, die im sozialen Sektor unterwegs sind. –– Bei legacies.now haben wir dann noch eine weitere Frage hinzugefügt, die im „Effektiven Altruismus“ bis vor kurzem noch nicht so verbreitet war: nach der Dringlichkeit. Insbesondere durch die Klimakrise und das Stichwort der „Tipping Points“, also den Hinweis auf unumkehrbare Kipp-Punkte, haben wir gelernt, dass man auch diese Dimension immer in die Überlegungen zum Fördern und Spenden mit einbeziehen muss. Weil es Situationen gibt, in denen man anerkennen muss: Wenn man da jetzt nicht sofort etwas macht, ist es zu spät.
–– Ich selbst habe durch diesen nüchternen, rationalen und faktenorientierten Blick auf die Welt des Helfens und Spendens enorm viel gelernt, gestaunt und entdeckt – genau davon werde ich in diesem Newsletter erzählen und berichten. Zusammen mit Michael Noli habe ich legacies.now aber auch einiges beibringen können: vor allem darüber, wie man die Nüchternheit richtig vermittelt. So, dass sie eben doch berührt und begeistert. Denn das ist ja eine Binse: nur, weil etwas richtig ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch überzeugt.
IV. Der Ukulele-Effekt
Ich Gleich ganz am Anfang, unmittelbar nach der ersten Formulierung der legacies.now-Idee, hast Du uns einen Gedanken mitgegeben, den Michael und ich dann versucht haben, lebendig zu machen. Deine Text-Nachricht lautete ungefähr: Zu dieser Form von Beratung müsse die Ukulele spielen.
Stefan Shaw Ich habe mich an einen Moment in Südfrankreich erinnert. An einem wirklich schönen Hang saßen mein Sohn meine Tochter und eine Freundin von ihr. Die schauten gemeinsam in die Mittelgebirgslandschaft, meine Tochter fing an, Ukulele zu spielen, und alle drei haben zusammen gesungen. Ich glaube, mir ist das eingefallen, weil das Beratungsgeschäft bei legacies.now eben keins ist wie jedes andere. Es geht wirklich um Zukunft, und es geht um die hoffentlich freudvolle Erwartung von Dingen, die sich verändern und verbessern können.
Ich Philanthropie ohne Schuld und Sühne.
Stefan Shaw Ja. Nicht zurück geben, sondern nach vorne geben.
–– Deshalb haben wir das Büro von legacies.now eben nicht als Büro eingerichtet, sondern als Wohnung – in der es zum Beispiel einen Plattenspieler gibt, und vor deren Betreten die Besucher*innen fröhlich fragen, ob sie die Schuhe ausziehen sollen/dürfen. Deshalb verzichten wir auf alle typischen „Trigger“ der Philanthropie: Bilder von Kindern mit großen Augen etc. … und gestalten die Fakten, Zahlen, Informationen über die effektivsten Organisationen der Welt trotzdem so sexy, wie das dank Grafik-Können & -Kunst natürlich funktioniert. Deshalb berichten wir von diesen Organisationen und ihren Macher*innen nicht nur, sondern machen sie in möglichst persönlichen Geschichten so lebendig wie möglich.

Anfang August bin ich zusammen mit Michael als Partner und Gesellschafter bei legacies.now wieder ausgestiegen, habe das Wohnungsbüro in Haidhausen leer geräumt – und bin neben den Briefkasten hinter das Schaufenster gezogen; übrigens genau an den Ort, an dem ich vor zehn Jahren die allerersten Schritte in die Selbständigkeit machte. Während legacies.now die Philanthropie-Beratung intensiviert und ausbaut, spiele ich künftig etwas lauter die Ukulele, hab’ ich mir vorgenommen (keine Angst, nur metaphorisch): indem ich über das, was ich bei legacies.now gelernt habe, mit den Mitteln des Journalisten und Kommunikationsexperten berichte. Indem ich mit mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit als bisher darüber nachdenke und erzähle, was zu tun ist – weil es die meiste Wirkung erzielt. Das wird fürs Helfen und Spenden gelten, kann aber durchaus mal die Markenentwicklung und -kommunikation oder sonstwas betreffen (man gönnt sich ja sonst nichts). Legacies.now braucht mich nicht mehr als fest eingebundenen Partner; auch wenn ich natürlich Begleiter auf Parallelkurs bleibe – und ich bei Bedarf auch noch gerne als Berater loslege, für Philanthropie genauso wie für Marken.
Stefan Shaw Ja, glaube, dass wir weiter denken müssen als die Organisation legacies.now. Ich glaube, dass das eigentliche Projekt ein Aufklärungsprojekt ist.
Und jetzt? Was tun?!
Schreibt mir was, wenn Ihr es bis hierhin durchgehalten habt (und wenn Ihr vorher entnervt ausgestiegen seid, schreibt mir auch). Und: Ukulele.
Nicht am Hang, aber im Garten; nicht junge Menschen, sondern alte. Aber: schön.
Euer Stefan
PS. Ich habe mir vorgenommen, jeder*jedem Gesprächspartner*in die „Eine-Million-Euro-Frage“ zu stellen. Wenn Du heute eine Million Euro spenden müsstest, so wirkungsvoll wie möglich – wohin würde das Geld gehen? Hier kommt die Antwort von Stefan Shaw vom 9. August, die – Spoiler-Alert! – uns wohl nochmal beschäftigen wird in diesem Newsletter:
Stefan Shaw Okay, heute. Heute ist der aktuelle Bericht des IPCC herausgekommen, also des weltweiten Wissenschaftler-Panels, das die Weltöffentlichkeit nochmal darüber aufklärt, was gerade mit dem Klima passiert. Es ist „not pretty“, was dort drinsteht. Und es wird ein Thema hervorgehoben, das wir auch bei legacies.now schon identifiziert haben, dank der Hilfe von Thinktanks und Forscher*innen, die uns unterstützt haben. Das ist die Bedeutung von Methan. Erstaunlicherweise sind für einen Großteil der Emissionen Lecks verantwortlich – Löcher in Leitungen in der Erdöl- und Erdgasverarbeitung, die man einfach nur identifizieren und stopfen muss. Das steckt ein irres Potenzial, um vergleichsweise einfach und schnell noch ein paar Jahre Zeit zu gewinnen, in der wir dann so viele anderen Beschlüsse fassen und umsetzen müssen. Das ist so ein großer Hebel, so ein großes Potenzial: Also würde ich derjenigen Organisation die Million geben, die auf dieses Methan-Problem besonders früh hingewiesen und dafür funktionierende Lösungen ausgearbeitet hat. Das ist die „Clean Air Task Force“ aus den USA. Denen würde ich sagen: Hier, nehmt die Million und seht zu, dass dieses Methanthema nicht noch größer wird als es ohnehin schon ist, durch Beeinflussung der öffentlichen Wahrnehmung und der Politik. Und arbeitet an der Lösung, um zumindest diese Kuh vom immer dünner werdenden Eis zu ziehen.
Ich Passt insofern ganz gut, weil eine Kuh auch zur Methan-Produktion beiträgt.
Stefan Shaw Ja, das stimmt. Also: … um die furzende und rülpsende Kuh endlich von dem immer dünner werdenden Eis zu ziehen.
–– Mehr Informationen zur Arbeit der „Clean Air Task Force“ (und die Möglichkeit, von Deutschland aus auch weniger als eine Million zu spenden) gibt es hier.
PPS. Foto: Blick in die Bürowohnung von legacies.now, August 2021.
