Liebe Leute,
da bin ich wieder – schön, dass ich Euch zum dritten Mal schreiben kann. Es hat ein bisschen gedauert seit dem letzten Mal; Stichwort: Sommerferien. Dafür war der zweite Newsletter auch besonders lang. Diesmal habe ich mir fest vorgenommen, Euch nicht gaaanz so viel Text zuzumuten. Vor allem spare ich mir diesmal die „Romantisierung“, die einer von Euch bei meinem ausführlichen (Rück-)Blick auf legacies.now herausgeschmeckt hat („wie die Aromatisierung beim Tee“, so beschrieb es dieser Leser, und ich glaube, er bevorzugt Heißgetränke und Newslettertexte ohne Zusatzstoffe).
Also, ohne weitere Verzögerung, schenkt Euch einen Tasse ein, am besten grün, nicht schwarz, und los geht’s, denn wir haben ja keine Zeit … Und das ist tatsächlich so, denn in ein paar Tagen sind Bundestagswahlen, und kurz zuvor wollte ich Euch gerne noch zurufen: Stellt Euch vor, es gibt ein Klimagesetzespaket für Deutschland, das so gut wie fix & fertig in der Schublade liegt – und kaum einer weiß es. Und diejenigen, die davon wissen, holen es nicht heraus!
Seit 2019 existiert der gemeinnützige Verein GermanZero, gegründet unter anderem von Heinrich Strößenreuther, dem Berliner Fahrradentscheid-Pionier (und seit einiger Zeit einer der führenden Klimaschutz-Vorantreiber innerhalb, oh ja, tatsächlich, der CDU/CSU). GermanZero hat von Anfang an das Ziel verfolgt, die Verpflichtung der Bundesregierung zu den Vorgaben des Pariser Klimaschutzabkommens wirklich ernst zu nehmen – anders als die Politiker:innen selbst. GermanZero wollte zeigen und vorführen, was zu tun ist: damit Deutschland seinen nötigen Beitrag dazu leistet, um die weltweite Temperaturerhöhung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Dafür hat GermanZero nicht nur Forderungen aufgestellt, die erfahrungsgemäß sofort zerredet und zerstritten werden, sondern ein gewaltiges Bündel sehr konkreter Maßnahmen zu einem kompletten Gesetzespaket geschnürt. Quasi ein Geschenk an die nächste Bundesregierung, die sich damit viel Zeit und Mühe – Rechnen, Prüfen, Abwägen, Verhandeln, Formulieren – sparen könnte: und stattdessen, etwas überspitzt gesagt, dieses Paket nur auspacken und verabschieden lassen müsste.
Was steckt drin? Wie kam’s zustande? Für einen schnellen Überblick habe ich ein Gespräch mit Lea Nesselhauf geführt, die als Juristin (mit Master-Abschluss aus den USA und noch vor dem deutschen Staatsexamen) seit Juni 2020 für GermanZero an der Entwicklung des Katalogs aus Gesetzesmaßnahmen maßgeblich beteiligt ist, zusammen mit einem kleinen Team aus Festangestellten, unter der Führung des Rechtswissenschaftlers und Mediators Prof. Dr. Stephan Breidenbach. Hier kommen die wichtigsten Ergebnisse meiner Unterhaltung mit Lea – so knapp wie möglich zusammengefasst.

Der Anstoß:
„Nach einem GermanZero-Workshop mit Expert:innen im November 2019 zu den wichtigsten Maßnahmen für die Erreichung des 1,5-Grad-Ziels war klar: Die Bundesregierung hat einfach keine Strategie. Sie versucht nicht einmal, eine zu erarbeiten. Dann müssen wir diesen Job eben übernehmen – und ein Gesetz schreiben, das zeigt: Klimaneutralität in Deutschland bis 2035 ist möglich.“
Die Lücke:
„Ich verstehe unsere Arbeit als Fortführung von »Fridays for Future« und deren klarer Botschaft: »Hey, Politik, es reicht nicht für 1,5 Grad!« Das nehmen wir auf und beantworten jetzt ganz konkret, wie es geht. »Hey, Politik, das müsst ihr nur noch umsetzen!« Das ist die Lücke, die wir füllen: zwischen einer klaren Zielvorgabe und fundierten Lösungen. Zwischen Aktivismus und Wissenschaft.“
Das Vorgehen:
„Wir haben fünf große Sektoren definiert: Energie, Industrie, Verkehr, Gebäude und Wärme, Landwirtschaft und Landnutzung. In jedem dieser Sektoren haben wir dann die größten Emissionsquellen identifiziert, also gefragt: Wo liegen die Probleme, und damit auch die größten Hebel? Daraufhin konnten wir gezielt die tragfähigsten rechtlichen Optionen suchen und prüfen, um genau diese Probleme anzugehen – durch die Auswertung von weit über 1000 Studien und der Hilfe von enorm vielen ehrenamtlichen Expert:innen. So ist ein erster Entwurf des Maßnahmenkatalogs entstanden, der in zwei Feedbackschleifen gegengecheckt wurde. Erstens gab es so genannte Werkstätten, wiederum mit Expert:innen – von NGOs, aus Wirtschaftsverbänden, aus den Verwaltungen und aus der Wissenschaft natürlich. Dabei haben wir immer auch diejenigen eingeladen, von denen am meisten Gegenwind zu erwarten war, um deren Argumente und Sorgen zu verstehen und zu berücksichtigen. Zum Beispiel den Bauernverband, Menschen aus der Stahl- und Zementindustrie oder den Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie. Was wäre aus deren Perspektive nötig, um unsere Vorgaben mitzutragen? Zweitens haben wir den Katalog auch noch auf unserer Bürgerbeteiligungsplattform »Zerolab« hochgeladen: zum Kommentieren und Verbessern. Auch diese Rückmeldungen von fast 1000 Personen haben wir in die nun vorgelegte Fassung eingearbeitet.“
Der Austausch:
„Die Herausforderung war, dass wir nur wenige hauptamtliche Teammitglieder sind. Das hat aber auch den großen Vorteil, dass wir uns so eng und oft austauschen und absprechen konnten. Nur so ist es uns gelungen, nicht nur Einzelmaßnahmen nebeneinander zu stellen – sondern ein wirklich sektorenübergreifendes, funktionierendes Gesamtsystem zu entwickeln, in dem Wechselwirkungen und Abhängigkeiten berücksichtigt sind.“
Das Ergebnis – die wichtigsten Maßnahmen pro Sektor:
Energie. „Der größte und wichtigste Bereich. Sozusagen die Basis für die anderen Sektoren. Hier haben wir ein neues Energiegesetzbuch geschrieben, um einen neuen Rahmen zu schaffen – und das veraltete und nicht mehr effektive Energierechtsregime inklusive des Erneuerbare-Energien-Gesetzes abzulösen bzw. auslaufen zu lassen. Die beiden zentralen Bestandteile des neuen Gesetzbuchs: einerseits die Stärkung dezentraler Energiegemeinschaften, um eine weitgehend autarke Energieversorgung auf lokaler und regionaler Ebene möglich zu machen – andererseits die Einrichtung einer neuen, zentralen »Erneuerbare-Energien-Agentur«, um endlich flächendeckend bedarfsorientierte Ausbauziele zu formulieren und dementsprechend große Ausschreibungsverfahren zu organisieren.“
Industrie. „Hier ist eine Reform der CO2-Bepreisung erforderlich – also des Emissionshandels-Systems. Dafür muss man die Menge der insgesamt ausgegebenen Zertifikate konsequent begrenzen – nämlich am Restbudget ausrichten, das für das 1,5-Grad-Ziel noch verfügbar ist. Außerdem ist die konsequente Förderung der Kreislaufwirtschaft enorm wichtig – durch Quoten für so genannte Rezyklate und die Stärkung von Reparatur-Rechten.“
Verkehr. „Es führt nichts daran vorbei, dass wir spätestens 2025 aufhören müssen, Pkw mit Verbrennungsmotoren neu zuzulassen, denn Pkw werden im Schnitt zehn Jahre gefahren und wir brauchen für die Einhaltung des 1,5 Grad-Limits einen klimaneutralen Pkw-Verkehr. Wichtig: Das gilt nur für Neu- und nicht für Gebrauchtwagen – und ist auch kein Fahrverbot für Verbrenner.“
Gebäude und Wärme. „Einerseits müssen wir die Sanierungsrate massiv erhöhen, um Energieverluste einzudämmen; und andererseits müssen wir fossile Heizsysteme austauschen, vor allem durch Wärmepumpen. Aber natürlich muss man gleichzeitig die Bauordnung reformieren: vor allem, um Hürden für Nutzungsänderungen und Umbauten abzubauen, denn wir bauen viel zu viel neu, anstelle bestehende Gebäude anders weiter zu nutzen – aber auch, um nachhaltige Baustoffe zu fördern. An diesem Sektor kann man auch kurz andeuten, was wir in jedem der fünf Bereiche mitberücksichtigt haben – wie verteilt man die Kosten, wie federn wir übermäßige Belastungen ab? Wir schlagen z. B. vor, dass die Gebäude-Sanierungskosten aufgeteilt werden zwischen Vermieter, Mieter und Staat. Und wir planen die Einführung eines Härtefallfonds.“
Landwirtschaft. „Dieser Sektor ist die Hauptquelle für Methan und Lachgas in Deutschland. Die Reduktion dieser Treibhausgase wird kurz- und mittelfristig besonders wirkungsvoll sein, um das Erreichen von klimatischen Kipp-Punkten zu verhindern. Zwei Drittel der Emissionen im Landwirtschaftsbereich kommen direkt aus der Tierhaltung. Deswegen brauchen wir eine Begrenzung der Anzahl an Nutztieren für eine bestimmte Fläche (Flächenbindung); und wir brauchen einen eigenen Emissionshandel für tierische Produkte, idealerweise europaweit – das hilft auch dabei, die Produktion an der tatsächlichen Nachfrage auszurichten.“
Die Konsequenzen:
„Was mich ehrlich frustriert an der politischen Debatte rund um den Klimaschutz: Immer ist vor allem davon die Rede, was durch konsequente Maßnahmen angeblich schlimmer wird, worauf man angeblich verzichten muss. Dabei geht es in den allermeisten Fällen überhaupt nicht um Verzicht – sondern nur darum, dass es anders wird. Und in vielen Bereichen würden wir enorm an Lebensqualität gewinnen, in den Städten zum Beispiel. Bessere Luftqualität, weniger Lärm, mehr Platz für Grünflächen. Auch eine klimaverträgliche Begrenzung der Nutztierhaltung würde sich insgesamt lohnen: für die Boden- und Luftqualität, für unsere Gesundheit, vom Tierwohl ganz zu schweigen. Und was passiert denn, wenn wir nichts unternehmen? Wie die Flutkatastrophen gezeigt haben: Es bleibt nicht so, wie es jetzt ist. Es wird schlechter und schlimmer.“
Die Verantwortung:
„Was unser Gesetzespaket sehr deutlich macht: Viel zu lange hat die Politik darauf gesetzt, den Umgang mit der Klimakrise als individuelle Verantwortung darzustellen. Wir sollen weniger fliegen, weniger Fleisch essen, mehr Fahrrad fahren, dann passt es schon. Damit hat es sich die Politik viel zu lange bequem gemacht, um Konflikte zu vermeiden. Denn es ist völlig klar: an den größten und wichtigsten Stellschrauben insbesondere im Energie- und Industriebereich können wir Einzelnen gar nicht drehen.“

Die Chancen:
„Ich persönlich kann nur sagen, dass meine Klimaverzweiflung deutlich größer war, bevor ich diese Arbeit angefangen habe. Jetzt weiß ich, dass es konkrete Lösungen gibt. Denn die Transformation zur Klimaneutralität ist zumindest in Deutschland keine Frage von fehlender Technologie mehr. Bis auf ganz wenige Ausnahmen – in der Zementindustrie oder im Luftfahrtbereich – stellt sich die Frage »Was tun?!« nur noch politisch: Setzen wir’s um?! In unseren Gesprächen mit Politiker:innen aller demokratischen Parteien sehen wir zum Glück viel Offenheit, zum Beispiel für die Einführung des von uns vorgeschlagenen neuen Energiegesetzbuchs. Und auch wenn nicht alle Industriezweige begeistert sein werden von den notwendigen Umstellungen, gibt es viele Branchen, die enorm profitieren. Und viele neue Innovations-Chancen. Übrigens: Unternehmerische Planungssicherheit nützt allen. Das haben wir immer wieder gehört, dass es einfach gut wäre, wenn wirklich mal klare Ansagen kommen.“
Die nächsten Schritte:
„Wir werden natürlich die Koalitionsverhandlungen eng begleiten und dazu auch eine Art »Tracker« zur Verfügung stellen. Wir werden unseren Katalog weiter laufend aktualisieren und die Emissionseinsparungen noch genauer bilanzieren. Wir bleiben dran, wir machen weiter.“
Wer sich nun noch aus erster Hand und ausführlicher informieren möchte, der und dem sei das exzellente Magazin empfohlen, das GermanZero veröffentlicht hat – oder natürlich der Download des 500-Seiten-starken Maßnahmenkatalogs selbst.
Und jetzt: Was tun?!
Schreibt mir was.
Euer Stefan
PS. Ich habe mir vorgenommen, jeder*jedem Gesprächspartner*in die „Eine-Million-Euro-Frage“ zu stellen. Wenn Du heute eine Million Euro spenden oder investieren müsstest, so wirkungsvoll wie möglich – wohin würde das Geld gehen? Hier kommt die Antwort von Lea Nesselhauf: „Ich würde das Geld in den Aufbau der neuen »Erneuerbare-Energien-Agentur« stecken, deren Einrichtung wir vorgeschlagen haben. Denn dafür bräuchten wir wirklich einige der besten und klügsten Köpfe im Land, zum Beispiel aus dem IT-Bereich. Damit die bereit sind, für eine staatliche Agentur zu arbeiten, braucht es Geld. Das wäre eine wirklich sinnvolle Investition, denke ich.“
… und weil man im von Lea vorgeschlagenen Sinn nicht spenden kann, füge ich ganz persönlich noch den Hinweis dazu, dass sich das ganz gut mit einer Förderung von GermanZero kompensieren ließe.
PPS. Foto: Via Stephan Schwahlen, dem ich eh zu gewaltigem Dank verpflichtet bin … via hier.
